Bildungspartnerschaft zwischen Archiv und Gesamtschule Hennef Meiersheide - Bildungsmodule und Projekte im Rhein-Sieg-Kreis

04. April 2019: Dr. Claudia Maria Arndt, Leiterin des Archivs des Rhein-Sieg-Kreises

Seit fast sechs Jahren pflegen das Archiv des Rhein-Sieg-Kreises und die Gesamtschule Hennef Meiersheide nunmehr eine offizielle Bildungspartnerschaft „Archiv und Schule“. „Auslöser“ hierfür war ein mehrmonatiges Bildungsprojekt zum Strukturwandel in der Region gewesen, das im Schuljahr 2012/2013 das Kreisarchiv und eine 9. Klasse der Gesamtschule durchgeführt hatten und das in eine umfangreiche und viel beachtete Ausstellung mündete (vgl. EILDIENST Nr. 5-6/Mai-Juni 2014, S. 182-184). Die überaus positiven Erfahrungen, die das Archiv in der Zusammenarbeit mit SchülerInnen sowie den beteiligten Lehrkräften seinerzeit sammelte, bildeten die Grundlage der Entscheidung, dass am 18. September 2013 erstmalig eine Bildungspartnerschaft zwischen den beiden Institutionen abgeschlossen wurde, aus der bis heute zahlreiche weitere Projekte resultierten.


Ausstellungseröffnung in Hennef
Quelle: Stadt Hennef/Dominique Müller-Grote

Bildungsmodule für die 6. Klassen
Für die Sechstklässler wurden zwei Module entwickelt, die seit 2013 im Einsatz sind und über die Jahre immer wieder verifiziert werden. Das erste Modul firmiert unter dem Titel „Wo komme ich her? Schüler forschen im Kreisarchiv zu ihren einzelnen Wohnorten“. Die Stadt Hennef besteht aus über 100 Ortschaften und liegt am Fluss Sieg. Viele der SchülerInnen wohnen in ganz unterschiedlichen Orten, teilweise schon immer, teilweise sind sie zugezogen, manche mit Migrationshintergrund. An ihrem Tag im Kreisarchiv sollen sie lernen, wie man nach Informationen zu diesen Orten recherchiert und welche unterschiedlichen Informationsquellen es hierfür gibt. Durch den Ortsbezug der zuvor vom Archivpersonal herausgesuchten Archivalien (leicht lesbare Schriftstücke, historisches Bildmaterial wie Fotos oder alte Ansichtskarten) entsteht auch ein Bezug zur eigenen Lebenswelt der Kinder, also somit auch zur Gegenwart. Jede(r) Schüler(gruppe) soll eine kurze Geschichte seines Ortes zusammenstellen und mit vielen Bildern illustrieren. Sie werden aber auch motiviert, auch einmal im eigenen Umfeld – z.B. bei Eltern oder Großeltern – nachzuforschen, ob noch alte Fotos o.ä. vorhanden sind. Die Ergebnisse werden in kleinen Broschüren zusammengestellt und gedruckt, so dass am Ende jeder Schüler die Ergebnisse der gemeinsamen Recherchen in der Hand halten kann.
Das zweite Modul firmiert unter der Bezeichnung „Archivschnuppertag“. Analog der Lehrpläne sind bei den Schülern folgende Kompetenzen zu entwickeln bzw. zu stärken: Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Handlungskompetenz. Hierfür wurden zusammen mit der seitens der Gesamtschule für die Bildungspartnerschaft zuständigen Lehrerin Christiane Liedtke fünf Themenstationen entwickelt, die jeder SchülerIn absolvieren muss. Im Einzelnen sehen diese wie folgt aus:

  • Recherche in Tageszeitungen am Mikrofilmlesegerät: Behandelt wird, seit wann es Tageszeitungen gibt, warum diese im Archiv gesammelt, aufbewahrt und verfilmt werden und wie man in diesen recherchieren kann. Anhand bestimmter vorgegebener Fragestellungen dürfen die SchülerInnen auch selbst eine Recherche am Mikrofilmlesegerät durchführen.
  • „Ohne Quellen geht es nicht!“ – Primär- oder Sekundärquellen: Den SchülerInnen werden die unterschiedlichen in Archiven vorhandenen Archivalien (z.B. Akten, Briefe, Urkunden, Fotos, Ansichtskarten, Plakate etc.) vorgestellt und anhand derer der Unterschied von Primär- und Sekundärquellen erläutert. Mittels einzelner Fotos und Ansichtskarten aus verschiedenen Jahrzehnten können die SchülerInnen u.a. herausarbeiten, wie sich Hennef über die Jahrzehnte verändert hat. Außerdem werden mit Photoshop veränderte Bilder vorgelegt, um die SchülerInnen dafür zu sensibilisieren, wie wichtig es ist, eine Quelle sorgfältig auf ihre Echtheit zu überprüfen (Stichwort Fake News).
  • „Der Weg der Akte vom Büro ins Archiv“ (Bestandserhaltung): Bei dieser Station wird erklärt, wie Akten überhaupt ins Archiv gelangen und welche Maßnahmen (z.B. Magazinklima) unternommen werden, damit Archivgut dauerhaft gelagert werden kann und dabei möglichst keine Schäden nimmt. Dabei werden auch Arbeitsschritte des Umbettens (Entfernung von metallischem Material, Umheftung in alterungsbeständige Heftsysteme, Vergabe von Archivsignaturen etc.) von Akten gezeigt. Die SchülerInnen dürfen diese Arbeitsschritte anhand von kassablen Akten selbst ausprobieren.
  • Geheimschrift Sütterlin?“: Die SchülerInnen lernen mit Hilfe des Sütterlin-Alphabets ihren Namen und kurze Sätze in Sütterlin zu schreiben. Auf Schiefertafeln können sie zunächst mit unterschiedlichen Griffeln die Sütterlinbuchstaben üben. Abschließend schreiben sie mit Zeichenfedern, die in Tusche getaucht werden, ihren Vor- und Zunamen. Erfahrungsgemäß ist dies die Station, die die SchülerInnen am faszinierendsten finden, v.a. wenn sie ihr neu gewonnenes Wissen bei alten Akten anwenden können.

Ansichtskarten gestern – und heute?: Anhand dieses Themas wird u.a. der Wandel der Kommunikationsmöglichkeiten aufgezeigt. Viele SchülerInnen kennen Ansichtskarten gar nicht mehr und haben auch noch nie selbst eine geschrieben. U.a. werden folgende Fragen besprochen: Was steht auf der Ansichtskarte? Zu welchem Anlass wurde die Karte geschrieben und verschickt? Was ist auf der Vorderseite der Karte zu sehen? Wie würdet ihr heute Urlaubsgrüße verschicken? Abschließend entwerfen die SchülerInnen eine eigene Ansichtskarte, indem sie ein Motiv aus dem Kontext des Archivs bzw. des Projekttages fotografieren und dieses von einer Archivmitarbeiterin zu einer Ansichtskarte verarbeitet wird. Diese wird dann mit einem Text versehen und an den Schulleiter der Gesamtschule verschickt.


Station Geheimschrift Suetterlin
Quelle: Rhein-Sieg-Kreis

 
Schüler beim Archivschnuppertag
Quelle: Rhein-Sieg-Kreis

Für alle Stationen gibt es begleitende Fragebögen, um die Fragestellungen bzw. Zielrichtung des zu vermittelnden Wissens im Auge zu behalten. Wenn die SchülerInnen alle Stationen durchlaufen haben, müssen sie noch gruppenweise schriftlich Fragen zu den in den Stationen behandelten Themen beantworten; die Gruppe, die dabei wenigsten Fehler macht, erhält ein kleines Siegergeschenk. Dies motiviert SchülerInnen dazu, über den gesamten Zeitraum der Stationenarbeit konzentriert und aufmerksam zu bleiben. Nach einer kurzen Magazinführung müssen alle SchülerInnen Evaluationsbögen ausfüllen, in der alle Programmpunkte einer Bewertung unterzogen und auch eigene Kritik, Anregungen und Lob geäußert werden können. Dies bietet die Möglichkeit, eine repräsentative Rückmeldung über die Qualität der Veranstaltung aus Sicht der SchülerInnen zu erhalten. So können Stärken und Schwächen der einzelnen Module erkannt und Anregungen für die zukünftige Gestaltung gesammelt werden. Inzwischen ist der sogenannte „Archivschnuppertag“ fest im Curriculum der 6. Klassen verankert, so dass den SchülerInnen Grundlagen der archivischen Arbeit vertraut sind, wenn sie in späteren Klassenstufen zu (Sonder-)Projekten wieder ins Kreisarchiv kommen.

Bildungsmodul „Partizipation und Demokratie“ für die 9. Klassen
Im Fach Gesellschaftslehre sind Partizipation und Demokratie ein Themenbereich, den die 9. Klassen der Gesamtschule laut Lehrplan behandeln sollen. Viele SchülerInnen (und BürgerInnen) haben keine Vorstellung, warum Landkreise wie der Rhein-Sieg-Kreis gebildet wurden, wie sie verwaltet und eingerahmt sind und welche Auswirkungen dies für die Einwohner hat. Insofern entstand die Idee, den SchülerInnen den o.g. Themenbereich mittels eines Projekttages im Kreisarchiv näherzubringen. Der Ablauf gestaltet sich wie folgt: Die Klasse wird in fünf Arbeitsgruppen aufgeteilt und jede Gruppe erhält ein Thema, mit dem es sich auseinandersetzen muss. Diese lauten:

  • Wahlen und Wahlergebnisse (u. a. Wann wird gewählt? Wer wählt? Wer wird gewählt? Wahlergebnisse der letzten Wahlen in Bezug auf die Stadt Hennef und auf den Rhein-Sieg-Kreis? Wie ist die Verteilung der Sitzung im Kreistag (Parteien, Anteil Frauen und Männer; Wie groß ist ein Wahlkreis? Wer bestimmt die Größe eines Wahlkreises? Wer bestimmt wie viele Vertreter in den Kreistag bzw. Stadtrat gewählt werden?). An Unterlagen zur Bearbeitung der Fragen erhalten die SchülerInnen u.a. eine Karte mit Wahlkreisen und Wahlbezirken, Wahlgrundsätze, Briefwahlunterlagen sowie Materialien, die den Unterschied Einwohner und Bürger (Wer ist wahlberechtigt?) erklären.
  • Frauenförderung in der Kreisverwaltung (u. a. Dienstvereinbarung Telearbeit, Teilzeitarbeit, Frauenförderplan, Vereinbarkeit Familie und Beruf, Frauen in Führungspositionen, Wertigkeit der Gelichstellung)
  • Jugendamt und „Schüler-BAFöG“ (u. a. Aufgaben des Jugendamtes bzw. der Jugendhilfezentren, wer kann Schüler-BAFöG beantragen und wo kann ich es beantragen, Förderrichtlinien)
  • Entscheidungs- und Verfahrensgrundlagen: Arbeit mit Geschäftsordnungen und Satzungen (u. a. Gemeindeordnung NRW, Kreisordnung NRW, Landesverfassung NRW, Geschäftsordnung Kreisverwaltung, Hauptsatzung, Bürgerbegehren, Bürgerentscheid, Dienstanweisung)
  • Rhein-Sieg-Kreis und Europa (u. a. Europaabgeordnete, Europabeauftrage Rhein-Sieg-Kreis, Fördergelder der EU)

Die Ergebnisse ihrer Recherchen stellen die Gruppen am Ende des Projekttages in Mikroplanspielen ihren MitschülerInnen vor, wodurch auch eine Ergebniskontrolle durch Lehrkräfte und Archivpersonal gewährleistet ist.
Außerdem stehen für jeweils ca. eine Stunde die Gleichstellungsbeauftragte des Rhein-Sieg-Kreises sowie ein langjähriger Kreistagsabgeordneter für Fragen aus dem Schülerkreis zur Verfügung. Die Fragerunde an diesen findet im Sitzungssaal des Kreistages statt, damit die SchülerInnen einen Eindruck gewinnen könne, wo die politischen Entscheidungen des Kreises diskutiert und getroffen werden.

Sonderprojekt einer 9. Klasse zum Thema „NS-Medizinverbrechen“
Da die SchülerInnen der Gesamtschule schon sehr früh das Kreisarchiv kennenlernen, kommen diese während ihrer Schulzeit immer wieder mit Sonderprojekten auf das Kreisarchiv zu. Da das Thema „Nationalsozialismus und die Folgen“ Bestandteil des Lehrplans der 9. Klassen ist, wollten SchülerInnen NS-Geschichte anhand eines regionalen Themas aufarbeiten. Nachdem man im Kreisarchiv überlegt hatte, zu welchen Themen passende Akten vorhanden seien, entschied die Klasse, intensiver die NS-Medizingeschichte in den Blick zu nehmen. So kam es, dass sie im Januar 2018 anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus mit ihren Lehrerinnen Claudia Langner und Mira Reisen Akten des Gesundheitsamtes des alten Siegkreises, in denen es um Zwangssterilisation ging geht, auswerteten. Sie bereiteten die Lebensgeschichten einiger Betroffener auf und stellten diese schon am Projekttag in der Klasse vor. Äußerst interessiert an dieser Zeit der Heimatgeschichte zeigte sich ein kleiner Teil der Jahrgangsstufe. Die SchülerInnen wollten mehr über die Hintergründe erfahren und zudem die damaligen Geschehnisse, die Schicksale von Betroffenen aus Eitorf und Hennef dem Vergessen entreißen und einem breiten Publikum zugänglich machen. So entstand eine 21 Roll-ups umfassende Ausstellung, in der die historischen Rahmenbedingungen, die handelnden Ärzte und v.a. die Opfer des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in den Fokus genommen werden. Die offizielle Ausstellungseröffnung, bei der die SchülerInnen ihre Ergebnisse vor zahlreichen Gästen vorstellten, fand im Januar 2019 im Hennefer Rathaus statt. Gefördert wird dieses besondere Projekt im Rahmen der Bildungsinitiative vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW. Die Ausstellung ist nur ein Teil des Gesamtprojekts: Im Laufe des Schuljahres wird ein entsprechendes Themenheft von der Projektgruppe in Zusammenarbeit mit dem Kreisarchiv erstellt werden. Dieses soll dann – wie auch die Ausstellungstafeln – im Schulunterricht verwendet werden.

Resümee
Die nunmehr langjährige Bildungspartnerschaft ist aufgrund vieler unterschiedlicher, nachhaltiger und erfolgreicher Projekte bei beiden Institutionen inzwischen fest etabliert und aus dem Schul- bzw. Archivalltag nicht mehr wegzudenken. Die „Archivtage“ bieten eine wertvolle Ergänzung zum „normalen“ Unterricht und steigern die Bedeutung des Archivs als außerschulischem Lernort. Somit sind Förderzweck bzw. -ziel, die das Förderprogramm „Archiv und Schule“ des Landes NRW beschreibt, voll erfüllt, denn: „Mit den Projekten sollen Strukturen und Instrumente entwickelt werden, die nachhaltig nutzbar sind und somit langfristig zur Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen mit den originalen Zeugnissen unserer Geschichte und Kultur, die in den Archiven in Nordrhein-Westfalen verwahrt werden, beitragen können.“


Dr. Claudia Maria Arndt
Quelle: Rhein-Sieg-Kreis