Das LVR Modellprojekt - Inklusiver Sozialraum. Gemeinsam Teilhabebarrieren erkennen und abbauen

07. April 2022: Von Nina Weinberger, Leitung des Modellprojekts „Inklusiver Sozialraum“, Landschaftsverband Rheinland

Der Landschaftsverband Rheinland ist Träger der Eingliederungshilfe. Hierbei steht der Mensch im Kontext seiner Lebenswelt im Mittelpunkt. Das Dezernat Soziales hat im Auftrag der Landschaftsversammlung Rheinland im Zuge des neuen Bundesteilhabegesetzes das Modellprojekt: Inklusiver Sozialraum in die Welt gerufen, welches die Sozialraumorientierung im Gesamtplanverfahren etablieren soll.

Mit einer Projektlaufzeit von drei Jahren sollen praxistaugliche Instrumente und Verfahren entwickelt werden, die es dem LVR-Fallmanagement ermöglichen, Teilhabebarrieren im Sozialraum sichtbar zu machen und an die Kommunen zu vermitteln, damit die gewonnenen Erkenntnisse für deren Sozialplanung genutzt und für den Einzelfall abgebaut werden können.

Politischer Auftrag und rechtliche Rahmenbedingungen
Mit dem Beschluss der Landschaftsversammlung Rheinland vom 16.12.2019 ist die Verwaltung beauftragt worden, „ihre Zusammenarbeit mit den Mitgliedskörperschaften mit dem Ziel zu vertiefen, auf inklusive Sozialräume hinzuwirken und die individuell festgestellten Bedarfe der Menschen mit Behinderungen mit fallübergreifender Stadtteilarbeit zu vernetzen“ (Antrag 14/286 der CDU/SPD). Konkret heißt dies, dass die Vorgaben der Sozialgesetzbücher IX und XII und der jeweiligen Landesausführungsgesetze NRW in die Praxis transferiert werden sollen. Das neue Bundesteilhabegesetz (welches den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention folgt) sieht vor, bessere Teilhabechancen für Menschen mit einer (drohenden) Behinderung (§ 2 SGB IX) zu ermöglichen. Einen besonderen Stellenwert kommen dabei dem Sozialraum und der Lebenswelt des Individuums zu.
§ 5 Satz 1 AG-SGB IX NRW besagt, dass das gemeinsame Ziel von Gemeinden, Trägern der Eingliederungshilfe, Kreisen und kreisfreien Städten, die Entwicklung inklusiver Sozialräume und die Beachtung der individuellen Lebenswelt ist. Dabei sollen alle Beteiligten bei der Umsetzung eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Hierbei spielen vor allem Abstimmungen, Koordinierungen und die Vernetzung untereinander eine große Rolle. Bei der Gestaltung des inklusiven Sozialraumes sind zwei Ebenen zu betrachten, die individuelle Ebene (der Mensch mit Behinderung) und die strukturelle Ebene (der Sozialraum).

Zielsetzung und Vorgehen
Im Zuge dessen hat sich das Projektteam am 01.08.2021 auf den Weg gemacht, diesem Auftrag Folge zu leisten. Das Modellprojekt wird in den drei Modellregionen Städteregion Aachen, Rhein-Sieg-Kreis (St. Augustin) und der Stadt Essen (Frohnhausen) durchgeführt.

Folgende Aspekte sind dabei zu berücksichtigen:

  1. Wissensgewinnung über den betreffenden Sozialraum
  2. Vernetzung vorhandener Akteure
  3. Gestaltung von Beteiligungsprozessen
  4. Abbau von Barrieren (ICF-orientiert in definierten Lebensbereichen).

Das Projektteam bezieht dabei vorausgegangene Erkenntnisse von Projekten mit ein. Außerdem orientieren sie sich an dem LVR-Aktionsplan „Gemeinsam in Vielfalt“ und dem Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX, der den Begriff Sozialraum definiert und den „Sozialraumgroschen“ (die Grundlage, um Leistungen personenunabhängig zu finanzieren) thematisiert.

Ein Sozialraum beschränkt sich nicht auf einen geographisch abgegrenzten Raum […]. Unter einem Sozialraum sind Örtlichkeiten wie auch soziale Gruppen und Netzwerke gemeint, die nach den Bedürfnissen des Individuums zusammengesetzt seinen Sozialraum bilden. Der Sozialraum lässt sich nicht allgemein bestimmen, vielmehr ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Für die eine Person gehören Schule und Sportverein dazu, für eine andere Person Arbeit und kulturelle Angebote. […] Der Sozialraum ist somit für jede leistungsberechtigte Person individuell, nach territorialen Bezügen, den Teilhabebedarfen und -wünschen und den vorhandenen Ressourcen höchst unterschiedlich definiert und unterliegt Veränderungsprozessen (Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX: 2019:134)[1].

Darüber hinaus werden unterschiedliche Experten und Expertinnen der Themen Sozialraumorientierung und Eingliederungshilfe zu Rate gezogen und gewonnene Erkenntnisse in einem überregionalen und einem regionalen Beirat zur Diskussion gestellt.

Das LVR-Fallmanagement arbeitet im Gesamtplanverfahren mit dem Bedarfsermittlungsinstrument (BEI_NRW). Dieses orientiert sich an den Kriterien der ICF (International Classification of Functioning, Disabiliy an Health), wurde zusammen mit dem LWL entwickelt und wird fortlaufend modifiziert. Das Instrument bildet die neun Lebensbereiche

  • Lernen und Wissensanwendung
  • Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
  • Kommunikation
  • Mobilität
  • Selbstversorgung
  • Häusliches Leben
  • Interpersonelle Interaktion und Beziehungen
  • Bedeutende Lebensbereiche
  • und Gemeinschafts-, soziales- und staatsbürgerliches Leben ab, welche es dem Fallmanagement ermöglichen sollen, ein möglichst passgenaues Bild der Lebenswelt des jeweiligen Leistungsberechtigten zu gewinnen und daraus die passenden Leistungen zu gewährleisten (vgl. Handbuch Bedarfe ermitteln Teilhabe gestalten: 2019:12f.)[2]. In der Abfrage aller Lebensbereiche werden sowohl die Barrieren als auch die Förderfaktoren erhoben.

Im ersten Schritt des Projektes wurde ein Postleitzahlenbezirk der Stadt Aachen als Stichprobe genommen. Es sind alle Bedarfsermittlungsanträge ausgewählten Stadtteils auf die genannten Teilhabebarrieren und Förderfaktoren untersucht worden.
Im zweiten Schritt werden aus den gesammelten Daten Hypothesen gebildet, die es in der Praxis mit den Stakeholdern der unterschiedlichen Modellregionen zu überprüfen gilt, um aus den gesammelten Erkenntnissen das Bedarfsermittlungsinstrument so weiterzuentwickeln, dass die tatsächlichen Teilhabebarrieren im Sozialraum sichtbar werden. Denn der Sozialraum ist nicht ein so genanntes „add on“, sondern versteht sich als Querschnitt durch alle Lebensbereiche der Leistungsberechtigten.
Und um dieses Ziel zu erreichen, braucht es eine engmaschige Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort und vor allem die Sichtweise der Menschen mit unterschiedlichen Behinderungserfahrungen. Dazu gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes aktiv in die Sozialräume vor Ort und gestalten Beteiligungsprozesse und Workshops, um gemeinsam ein praxistaugliches Instrument und Verfahren zu entwickeln, welches die Barrieren für Menschen mit Behinderungen, aber auch für alle Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde erkennt, um im weiteren Schritt aktiv diese Barrieren im Sozialraum abbauen zu können.

Vorteile für die Kommunen und deren Sozialplanung
Die Erkenntnisse über die Lebenswelt der Leistungsberechtigten in ihrem Sozialraum bilden nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung ab. Schaut man über den Tellerrand und denkt den demographischen Wandel, Menschen die kurzzeitig beeinträchtigt sind, Deutschland als Einwanderungsland und junge Familien mit Kindern mit ein, wird man viele Parallelen der Barrieren entdecken, die einem inklusiven Sozialraum entgegenstehen. Somit können die Erkenntnisse ein Abbild der Bürgerinnen und Bürger schaffen, welches für die Sozialplanung genutzt werden kann.
Um ein Beispiel zu nennen: Viele Menschen beschreiben die Teilhabebarriere „Zugang zu Behörden“. Damit ist nicht (nur) der physische Zugang gemeint, sondern auch der sprachliche. Die sogenannte „Behördensprache“ ist nicht barrierefrei und erschwert den Menschen Zugänge zu Leistungen. Auch und gerade Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, stehen vor diesen Herausforderungen. Wenn diese Barriere im Zuge des zu entwickelnden Verfahrens an die jeweiligen Kommunen und Kreise gespielt wird, können diese darauf reagieren und ihr Angebot an die Bedürfnisse ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger anpassen. Das Gleiche gilt für den Zugang zu Konsumgütern oder die Anpassung der Dienstleistungsangebote. Gerade für Kreise sind Erkenntnisse über die Angebote im Sozialraum ihrer angehörigen Gemeinden wichtig. So können Informationsnetzwerke geschaffen werden, die Angebote bündeln und den Menschen zugänglich gemacht werden können.


Nina Weinberger
Quelle: LVR

[1] Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für Menschen mit Behinderungen (2019): Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX Nordrhein-Westfalen. S. 134
[2] Bedarfe ermitteln. Teilhabe gestalten. BEI_NRW (2019): Die Direktorin des Landschaftsverbandes Rheinland und der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. S. 9-17