Das PSG III und die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege – eine verpasste Chance

24. August 2018: Von Marcus Mertens, Leitung Heimaufsicht, Sozialamt, Rhein-Kreis Neuss

Beim Inkrafttreten des Pflegestärkungsgesetzes III (PSG III) waren dessen Inhalte kein gut gehütetes Geheimnis – sie waren lange bekannt. Den Bundesländern stand somit ausreichend Zeit zur Verfügung, sich auf die Auswirkungen einzustellen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat diese Chance nicht genutzt, und damit die Möglichkeit einer Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege nachhaltig verpasst.

Wie sah die Situation zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des PSG III in NRW aus? Die Rechtsgrundlage in Nordrhein-Westfalen, das Alten- und Pflegegesetz NRW (APG NW) wies den Kreisen und kreisfreien Städten klassische Aufgaben als Kostenträger zu. Neben diesen Aufgaben, die die Kommunen als Träger der Sozialhilfe im Bereich der Investitionskostenförderung vorzunehmen haben, trat die sogenannte Örtliche Planung. Sie war kein neues Instrument, sondern in früheren Landespflegegesetzen bereits Bestandteil der Pflichtaufgaben.
Diese wieder ins Gesetz aufgenommene Örtliche Planung wäre noch heute ein stumpfes Schwert, wenn nicht durch den Druck des Landtags gegen die ausdrückliche Meinung des zuständigen Fachministeriums parallel die Verbindliche Planung in das Gesetz aufgenommen worden wäre. Erst durch die Verbindliche Planung erhielten die Kommunen wieder ein echtes Steuerungsinstrument, von dem der Rhein-Kreis Neuss sofort Gebrauch gemacht hat. Schon im Dezember 2014 fasste der Kreistag die notwendigen Beschlüsse, um dem Wildwuchs an neuen, vollstationären Pflegeeinrichtungen ein Ende zu setzen.

Die Ministerialbürokratie in NRW unter Leitung der damaligen Ministerin Barbara Steffens war im Vorfeld des PSG III mit der Entwicklung von diversen Software-Anwendungen beschäftigt, die gleichzeitig angestoßen wurden und teilweise bis heute nicht vollendet sind:

  1. Pfad-WTG, ein Meldeportal, das den Heimaufsichtsbehörden Daten liefert, die dort schon lange bekannt sind.
  2. Pfad-Invest, dessen Einsatz in einer nicht ausgereiften und nicht auskömmlich getesteten Version erfolgte, wodurch die zuständigen Behörden und Gerichte bis heute mit den entsprechenden Auswirkungen beschäftigt sind.
  3. Pfad-UIA, ein digitales Verfahren, das Kleinstanbietern von niedrigschwelligen Leistungen größte Probleme bei der Antragstellung verursacht und dessen wichtigstes Tool, die landeseinheitliche Datenbank, bis heute nicht zur Verfügung steht.

Echte zukunftsweisende Politik, die den Kommunen eine starke und aktive Rolle in der Pflegelandschaft zugewiesen hätte, wurde im Vorfeld des PSG III jedoch nicht betrieben. Da die Kommunen an die Umsetzung der Landesvorgaben gebunden waren, wurde ihre Rolle in der Pflegelandschaft nicht als aktive Gestaltung empfunden, sondern als klassisches Bürokratie-Monster.
Die Übertragung der Aufgaben nach der Anerkennungs- und Förderungsverordnung (AnFöVo) wurde durch das damalige Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter unter dem Hinweis vorangetrieben, dass nur bei einer Zustimmung der kommunalen Familie in dieser Frage künftig mit einer wohlwollenden, weiteren Stärkung der kommunalen Rolle gerechnet werden dürfe. Diese unverhohlene Drohung wandelte sich nach der Erklärung der Bereitschaft zur Übernahme der Aufgabe durch die Kreise und kreisfreien Städte im Lauf der Zeit zu einem nicht eingelösten Versprechen.
Wie sah nun die Rolle der Kommune nach der Aufgabenübertragung aus? Eine wesentliche Regelung der AnFöVo stellt der Stundensatz dar, der kraft dieser Verordnung von anerkannten Leistungsanbietern abgerechnet werden darf: 25 Euro für nicht tarifgebundene Anbieter, 28 Euro für tarifgebundene oder vergleichbare Anbieter (wobei damals wie heute ungeklärt bleibt, nach welchen konkreten tarifvertraglichen Regelungen der Vergleich stattfinden soll). Wie ein tarifgebundener Anbieter bei einem maximalen Stundensatz von 28 Euro einen wirtschaftlichen und, das muss zugestanden werden, einen gewinnbringenden Betrieb sicherstellen soll, ist schwer nachvollziehbar. Hierin liegt der Grund, warum kein flächendeckendes Angebot an niedrigschwelligen Unterstützungs- und Entlastungsleistungen in einem Markt entsteht, dessen Nachfrage um ein Vielfaches höher ist als das heute vorhandene Angebot.
Die Folge: Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen aus dem PSG III gehen verloren, weil die pflegebedürftigen Menschen sie mangels Angebot nicht in Anspruch nehmen können. Es kann nur vermutet werden, dass die Pflegekassen einen nicht unerheblichen Anteil an Leistungsansprüchen damit nicht ausschütten müssen. Leistungsansprüche, für die gemäß PSG III auch nur die Pflegekassen zuständig sind, und ausnahmsweise nicht die Träger der Sozialhilfe. Somit fließen Mittel aus dem SGB XI nicht in die kommunalen Gebietskörperschaften hinein, wo sie den Pflegebedürftigen Menschen ein längeres Leben im häuslichen Umfeld ermöglichen könnten. Die Verlierer sind neben den Betroffenen selbst erneut die Kommunen, wenn Hilfe zur Pflege in Einrichtungen anstatt ambulanter Pflegeleistungen möglicher Weise früher als nötig gezahlt werden muss.
Und wie nehmen die Menschen die Rolle der Kommunen im Bereich der AnFöVo wahr? Die Kreise und kreisfreien Städte verhindern in den Augen interessierter Kleinstanbieter die Anerkennung von Angeboten durch bürokratische Anforderungen, Auflagen und Verwaltungsgebühren. Kleinstanbieter, die sich im Übrigen deshalb bei den Kommunen nach den Voraussetzungen einer Anerkennung erkundigen, weil ihnen eine große Nachfrage nach entsprechenden Leistungen bekannt ist. Eine aktive, gestaltende Rolle der Kommunen sieht sicherlich anders aus.
Zurück in den Pflegesektor. Gerade die Position der Kreise bleibt schwierig. Zwar wurden ihnen mit der Örtlichen Planung strategische Aufgaben zugewiesen und mit der Verbindlichen Planung Steuerungselemente in die Hand gegeben, jedoch sind wesentliche Umsetzungen nur in enger Abstimmung mit den kreisangehörigen Kommunen möglich – ein in kreisfreien Städten nicht vorhandenes Problem. Während die Kreise den Bedarf für neue Pflegedienste ermitteln und gegebenenfalls im Rahmen eines Interessenbekundungsverfahrens einen potenziellen Betreiber ermitteln müssen, sind die kreisangehörigen Kommunen für die Bauleitplanung und das Baugenehmigungsverfahren zuständig. Während der spätere Betreiber der Pflegeeinrichtung den Antrag auf baufachliche Abstimmung beim Kreis stellt, spricht die Kommune mit einem Investor oder Projektentwickler, der als Bauherr auftritt über ein Grundstück oder eine Bauplanung. Die Ergebnisse beider Verfahren müssen nicht korrespondieren, was die Umsetzung konkreter Planungen schwierig erscheinen lässt. Ob derartige Verfahren die Kreise und die kreisangehörigen Kommunen in einer aktiven Rolle als Gestalter der Pflegeinfrastruktur oder mehr als deren Verhinderer erscheinen lassen, ist mehr als fraglich.
Darüber hinaus scheitert jeglicher Steuerungsversuch nach dem gesetzlich definierten Grundsatz „Ambulant vor stationär“ schlicht an einem Faktor, nämlich dem nicht vorhandenen Pflegepersonal. Ein Beispiel aus dem Rhein-Kreis Neuss: Viele ambulante Pflegedienste melden, dass sie keine weiteren Kunden annehmen, weil ihnen die Mitarbeiter fehlen. Ambulant vor stationär? Fehlanzeige. Doch damit nicht genug. Der Rhein-Kreis Neuss hat eine „Heimfinder-App“ entwickelt, mit der die Pflegeeinrichtungen freie Platzkapazitäten auf dem Smartphone, iPhone oder iPad von heimplatzsuchenden Angehörigen anzeigen lassen können. Dort sind derzeit nur rund zehn freie Plätze zu finden. Das würde im Klartext bedeuten: Die etwas mehr als 4000 Plätze im Kreisgebiet sind belegt. Irrtum. Denn die freiwillige Quartalsmeldung aller stationären Häuser bei der WTG-Behörde weisen rund 200 freie Plätze aus, und das seit Jahren. Der Grund: Die Pflegeeinrichtungen finden nicht ausreichendes Personal, um ihre Häuser auszulasten. Den Pflegemarkt sinnvoll zu steuern und die richtigen strategischen Maßnahmen einzuleiten fällt vor diesem Hintergrund schwer.
Sicherlich ist NRW mit der Altenpflege-Umlage schon seit vielen Jahren vergleichsweise gut aufgestellt und bildet eine große Zahl an Altenpflegerinnen und Altenpflegern aus, gleichwohl wurde in diesem Bereich in der vergangenen Legislaturperiode nicht nennenswert innovativ gearbeitet. Hier steuern auch die Kommunen in NRW auf einen Kollaps des Pflegesystems zu, sicher auch kein Zeichen für künftige, aktive Steuerungsmöglichkeiten.
Die derzeitige Landesregierung arbeitet zielgerichtet an der Behebung vieler Fehler und Irrwege, was aus Sicht der Kommunen positiv zu bewerten ist. Die grundsätzliche Ablehnung der „Modellkommune Pflege“ muss jedoch ebenfalls kritisiert werden. Die frühere Landesregierung war zwar grundsätzlich dafür eingetreten, hat jedoch im Hinblick auf das nahende Ende der Legislaturperiode zu langsam und mit zu vielen Verfahrensschritten agiert, um die „Modellkommune Pflege“ in NRW noch auf den Weg zu bringen. Durch beide Entscheidungen wurde die Möglichkeit vertan, die Kommunen tatsächlich in eine stärkere und aktivere Rolle im Pflegesektor zu bringen. Gerade durch eine aktive und steuernde Rolle in der Beratung, die trägerunabhängig und ohne finanzielle Nebeninteressen hätte betrieben werden können, hätten die Kommunen in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger als starke Partner bei Pflegebedürftigkeit und Alter wieder mehr in den Fokus rücken können.

Es verbleibt somit bei allen Kreisen und kreisfreien Städten selbst die Entscheidung, wie sie sich den Herausforderungen der Zukunft im Korsett der bundes- und landesgesetzlichen Regelungen stellen wollen.

Markus Mertens
Quelle: Rhein-Kreis Neuss