Kulturgutschutz im Notfall: Die Archive und das Hochwasser

12. Juli 2022: Von Birgit Geller, Dipl.-Restauratorin und Leiterin der Restaurierungswerkstatt beim LWL-Archivamt für Westfalen in Münster und Matthias Senk, Archivar und wissenschaftlicher Referent beim LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum in Pulheim

Die Hochwasser vom Juli 2021 haben im Rheinland und in Westfalen auch Archive, Bibliotheken und Museen getroffen, und das darin lagernde Kulturgut schwer geschädigt. Für die Träger und Eigentümer wurde die Rettung und Sicherung des Kulturguts mitunter zu einer enormen Herausforderung. Wie viel möglicherweise für immer verloren ist, lässt sich auch heute noch schwer abschätzen.
Die beiden Archivämter der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe waren in den auf die Flut folgenden Wochen im Dauereinsatz, um geschädigtes Archivgut aus den betroffenen Magazinen zu bergen und zu versorgen. Gemeinsam mit Helfenden vor Ort und einer starken Unterstützung aus der Archivcommunity gelang es, die Schäden in Grenzen zu halten und mehr als 3.000 laufende Meter Archiv- und Schriftgut zu sichern. Die Hochwasser werfen auch noch einmal die Frage auf, wie es um den Schutz von (öffentlichem) Kultur- und Archivgut vor solchen Katastrophen bestellt ist. Schon seit langem arbeiten die Archivämter hier auf eine bessere Notfallprävention bei den Archivträgern hin. Die Hochwasser vom Juli 2021 können nun einen neuen Schub geben.

Wenn Wasser in ein Archivmagazin eindringt, ist Eile geboten, denn hier lagert wertvolles und vor allem einzigartiges Kulturgut. Ist dieses erst einmal durchnässt, muss es aufwändig restauriert werden, um wieder für die Nutzung zur Verfügung zu stehen. Und schon nach kurzer Zeit blüht Schimmel, der das Papier zusätzlich angreift und schädigt. Es droht der unwiederbringliche Verlust! Der Schutz und die Sicherung des Archivguts ist daher eine der zentralen Aufgaben, die das nordrhein-westfälische Archivgesetz den Trägern öffentlicher Archive stellt.[i] Umso schwerer muss es viele Archivarinnen und Archivare getroffen haben, dass sie in den Tagen Mitte Juli 2021 hilflos dabei zusehen mussten, wie die Hochwasser von Erft, Volme, Wupper oder Inde ihre Archive überfluteten. Manche durften die Magazinräume erst nach einigen Tagen wieder betreten, um die Schäden anzusehen, die das Wasser in den Magazinen angerichtet hatte.


Zerstörung durch die Wucht der Wassermassen: im Magazinraum des Stadtarchivs Bad Münstereifel wurde die tonnenschwere Regalanlage aus den Verankerungen gehoben und umgeworfen.
Quelle: LVR-AFZ

Besonders schwer traf es im Rheinland die Kommunalarchive von Bad Münstereifel, Stolberg, Kall und Leichlingen sowie das Archiv des Nationalparks Eifel in Schleiden-Gemünd. Hier waren die Magazinräume komplett überflutet und das Archivgut durch Wasser, Schlamm, Fäkalien und andere Schadstoffe durchnässt und verunreinigt worden. Hinzu kamen erhebliche Schäden durch Schutt, Geröll oder zusammengebrochene Regalanlagen. In Westfalen entstand vor allem dem Archiv des Märkischen Kreises in Altena ein großer Schaden an Archivgut, welches umzugsbedingt in einer Lagerhalle untergebracht war, die von der Rahmede überflutet wurde. In weiteren Kommunal-, aber auch Kirchen- und Vereinsarchiven in NRW entstanden kleinere Schäden. Unter anderem in Hagen, Eschweiler, Rheinbach und Swisttal wurden Teile der Verwaltungsregistraturen mit archivwürdigen Unterlagen geschädigt.


Nasse und verdreckte Katasterbücher aus dem Kreisarchiv in Altena wurden zunächst auf Paletten gesichert. Jedes Stück muss einzeln gereinigt, getrocknet und wiederhergestellt werden.
Quelle: Christiane Todrowski, Märkischer Kreis.

Die beiden Archivämter der Landschaftsverbände[ii] hatten ab dem ersten Tag der Flut eine koordinierende Funktion übernommen und zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in die betroffenen Archive entsandt. Oberste Priorität hatte die Bergung aller Archivalien und Unterlagen, um weiteren Schädigungen vorzubeugen. Nun erwiesen sich vor allem die Erfahrungen aus den vielen Notfallübungen als hilfreich, die die Archivämter seit Jahren anbieten. Archivfachkräfte unterstützten bei der Priorisierung der zu bergenden Unterlagen und der Bewertung von geschädigtem Registraturgut. Restaurierungsfachkräfte begutachteten Schäden und leiteten die Reinigung und Verpackung der geborgenen Unterlagen durch Verwaltungsmitarbeitende, Freiwillige und vor allem Mitarbeitende der umliegenden Archive an. Die Archivalien wurden danach direkt in Kühlhäuser gebracht und bei -21°C eingelagert. Dieses Vorgehen verhindert vor allem Schimmelbildung und Verblockung und damit eine weitere Schädigung der Unterlagen. Später können die Archivalien mithilfe der Vakuumgefriertechnik schonend getrocknet werden. In knapp vier Wochen wurden so über 3.000 laufende Meter gesichert, was ungefähr 90–95% des geschädigten Archivguts entspricht.[iii] Gemessen an der großen Zerstörung in den Magazinen ist das ein enormer Erfolg, der insbesondere auch auf die intensive Vorbereitung auf solche Notfälle zurückzuführen ist.


Nach Tagen im Wasser lösten sich die Bildschichten historischer Fotos vom Träger ab. Die Schäden sind irreversibel, die Aufnahmen für immer verloren.
Quelle: LVR-AFZ.

Für die betroffenen Archive ist die Aufarbeitung der Katastrophe freilich noch lange nicht beendet. Der überwiegende Teil des Archivguts lagert noch immer gefroren in Kühlhäusern und es werden noch Monate und Jahre vergehen, bis alle Archivalien wieder nutzbar sind. Die Archivämter der Landschaftsverbände gehen allein für die Wiederherstellung des Archivguts von Kosten zwischen 60–70 Millionen Euro aus. Die Archivträger können diese Kosten gegenüber dem Wiederaufbaufonds von Bund und Land geltend machen.

Problematische Unterbringung von Archiv- und Kulturgut
Schon länger wird in Fachkreisen darüber diskutiert, wie Kulturgut vor solchen Katastrophen geschützt werden kann, die auch in unseren Breiten durch die Folgen des Klimawandels in Zukunft wohl häufiger auftreten werden. Eines der zentralen Probleme ist sicherlich die Unterbringung: In vielen Rathäusern und Verwaltungen liegen die Archivmagazine immer noch im Keller, welche bei Überschwemmungen naturgemäß am stärksten betroffen sind. Dies erschwert im Schadensfall zusätzlich die Bergung des Archivguts, sodass bis zur Erstversorgung wertvolle Zeit verloren geht. Gleiches gilt für viele Depots von Museen oder Bibliotheken. Während die Ausstellungsflächen häufig über moderne Technik und Sicherungen verfügen, werden Lagerflächen vielfach vernachlässigt.
Die Hochwasserlage vom Sommer 2021 hat gezeigt, dass nicht nur von größeren Flüssen, sondern auch kleinen Bachsystemen eine Gefahr ausgehen kann. Selbst Kultureinrichtungen, die mutmaßlich außerhalb der Hochwasser-Gefährdungszone liegen, sollten daher kritisch auf ihre Sicherheit geprüft werden.[iv] Dabei ist Hochwasser heute nur der für uns präsenteste Risikofaktor. Viele Notfälle in Archiven entstehen in Folge von Rohrbrüchen. Wenn – im schlimmsten Fall unbemerkt am Wochenende – wasserführende Leitungen brechen, kann das Archivgut dieselben Schäden nehmen, wie oben beschrieben. Normen zum Archivbau fordern daher schon lange, dass Magazine und Depots frei von wasserführenden Leitungen sein sollen.[v] Ist dies nicht möglich, bietet sich eine Unterwannung der Rohre mit gleichzeitigem Einbau von Wasserfühlern an, um das Risiko eines Schadens zu minimieren. Die Umsetzung solcher einfachen und im Vergleich zur Havarie kostengünstigen Maßnahmen wird leider in vielen Verwaltungen nicht konsequent verfolgt. Träger von Kultureinrichtungen wie Archiven, Bibliotheken und Museen sind daher aufgefordert, dem Schutz ihres Kulturguts eine höhere Priorität einzuräumen, um im Schadensfall die Verluste so gering wie möglich zu halten. Wichtigster Baustein hierfür ist eine systematische und konsequente Notfallvorsorge.

Vor dem Schaden klug sein
Notfallprävention beginnt mit einer Risikoanalyse, anhand derer Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß eines spezifischen Notfalls in Relation gesetzt und priorisiert werden. Die daraus resultierenden organisatorischen und baulichen Maßnahmen können bereits effizient zu einer Risikominimierung beitragen. Fachliche Unterstützung bieten Expertinnen und Experten der Feuerwehr, Versicherungen und der Landschaftsverbände. Umfassende Informationen liefert zudem der SicherheitsLeitfaden Kulturgut (SiLK) mit einem zugehörigen Online-Tool zur Evaluierung potentieller Risiken.[vi]
Für den Schadensfall selbst ist ein auf die jeweilige Institution zugeschnittener und aktueller Notfallplan unabdingbar. Er legt Strukturen und Abläufe fest, die es ermöglichen, im Schadensfall schnell und effizient zu handeln. Dies minimiert im Idealfall die Schäden und damit Folgekosten für die Wiederherstellung von Archivgut. Ein Notfallplan berücksichtigt alle notwendigen Schritte von der Bergung über die Erstversorgung bis hin zur Zwischenlagerung des geschädigten Kulturguts. Da sich die Mitarbeitenden der Kultureinrichtungen im Notfall mit ihrer Expertise auf die Bergung konzentrieren müssen, ist für koordinative Maßnahmen wie Logistik, Materialbeschaffung, Einbindung von Hilfskräften, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit etc. weitere personelle Unterstützung durch den Träger sicherzustellen und im Notfallplan verbindlich festzulegen.
Bei der Flutkatastrophe des vergangenen Jahres, hat sich zudem der Wert sogenannter Notfallverbünde gezeigt, deren Mitglieder bei der Schadensbewältigung vor Ort aktiv im Einsatz waren. Es kann daher nur nachdrücklich dazu aufgefordert werden, solche Verbünde auf regionaler und städtischer Ebene zu gründen, in denen Einrichtungen verschiedener Träger zusammengeschlossen sein können. Auf diese Weise können sich Archive, Bibliotheken, Museen, universitäre Einrichtungen u. a. der gegenseitigen Unterstützung im Schadensfall versichern und sich durch regelmäßige Übungen optimal auf einen Ernstfall vorbereiten. NRW ist hier bereits bundesweit Spitzenreiter, doch sind durchaus noch weiße Flecken auf der Landkarte zu verzeichnen.[vii]
Für eine erfolgreiche Notfallbewältigung ist zudem ein enger Austausch mit und die frühzeitige Einbindung von Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben unabdingbar. Wie das Beispiel des Notfallverbunds Köln zeigt, profitieren alle beteiligten Organisationen von der notwendigen Sensibilisierung im Umgang mit Kulturgut. So ist es wünschenswert, dass sich die besondere Bedeutung kulturgutbewahrender Institutionen auch in den Einsatzplänen von Feuerwehr und THW widerspiegelt – denn Kulturgut stiftet Identität und ist daher in hohem Maße systemrelevant![viii]
Beide Landschaftsverbände unterstützen kulturgutbewahrende Institutionen in NRW bei der Notfallplanung durch Beratung und individuelle Fortbildungsmaßnahmen vor Ort. Daneben ist auch eine substanzielle Förderung fachlich angemessener Beschaffungen möglich (z. B. Notfallboxen). Auch die Koordinierungsstelle zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) fördert Maßnahmen und Beschaffungen im Zusammenhang mit dem Aufbau von Notfallverbünden.[ix]

Birgit Geller
Quelle: LWL

Matthias Senk
Quelle: LVR

[i] „Archivgut ist […] vor Beschädigung oder Vernichtung zu schützen.“ § 5, Abs. 2 ArchivG NRW.
[ii] Das LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum in Pulheim (www.afz.lvr.de) und das LWL-Archivamt für Westfalen in Münster (www.lwl-archivamt.de) beraten und unterstützen die nichtstaatlichen Archive in ihren jeweiligen Zuständigkeitsgebieten.
[iii] Die Verluste betreffen überwiegend Verwaltungsakten, die im laufenden Betrieb nicht mehr benötigt wurden und keinen bleibenden Wert für die Archive hatten, sowie Bücher, Zeitschriften und andere Objekte, die in anderen Archiven ebenfalls vorhanden sind bzw. deren Neubeschaffung einfacher und kostengünstiger ist, als die restauratorische Aufbereitung.
[iv] Die Hochwasserrisiko- und Hochwassergefahrenkarten des Landes NRW geben die zu erwartenden Pegelstände nur eingeschränkt wieder (letzte Aktualisierung 2019). https://www.flussgebiete.nrw.de/hochwassergefahrenkarten-und-hochwasserrisikokarten-8406
[v] Verwiesen sei insbesondere auf die Vorgaben der DIN ISO 11799:2017-04, DIN 67700:2017-05 und DIN EN 16893:2018-04
[vi] Siehe https://www.silk-tool.de/de/
[vii] https://www.kek-spk.de/notfallverbundkarte/#/ Informationen und Materialien hierzu sind auf einer eigenen Homepage gebündelt: http://notfallverbund.de/
[viii] Dies zeigt sich auch in der aktuellen Entwicklung seitens des Bundes, der in diesem Jahr erstmals eine Ausbildung zum „Fachberater Kulturgutschutz“ an der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung anbietet, https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Akademie-BABZ/akademie-babz_node.html
[ix] Siehe die Homepage der KEK: https://www.kek-spk.de/search?term=&filter[measure_fct][0]=Notfallmaterial