Regionale Ausgestaltung eines standardisierten Landessystems im Rheinisch-Bergischen Kreis

13. Oktober 2021: Von Torsten Schmitt, Leiter der Kommunalen Koordinierung „Übergang Schule-Beruf“, Rheinisch-Bergischer Kreis

Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ bleibt auch zehn Jahre nach der Einführung ein aktueller Handlungsauftrag, der immer wieder neu zwischen den Kreisen mit den jeweiligen Verantwortungsgemeinschaften vor Ort und dem Land in dialogischen gleichberechtigten Prozessen gestaltet werden muss. Ein Plädoyer für Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen und Stärkung der regionalen Verantwortungsgemeinschaften.

Eine Vielzahl von befristeten regionalen Einzelprojekten zur beruflichen Orientierung, eine unüberschaubare Fülle von Anschlussmöglichkeiten sowie eine nicht aufeinander abgestimmte regionale Beratungsstruktur prägten viele Jahre den Übergang von der Schule in den Beruf für Jugendliche. Eine individuelle Orientierung unter diesen Rahmenbedingungen stellte für viele junge Menschen eine große Herausforderung dar, die es richtungsweisend für ihre berufliche Zukunft zu meistern galt. Der individuelle Erfolg hing früher häufig davon ab, wie engagiert und vernetzt die eigenen Eltern und Lehrkräfte vor Ort die schulische Berufsorientierung gestalteten.

Im Rheinisch-Bergischen Kreis startete daher bereits im Jahr 2005 ein Prozess für die Hauptschulen im Rahmen eines kreisweiten Schulentwicklungsprojektes „Ausbildungsreife“, der mit allen schulischen und außerschulischen Partnern anhand einheitlicher Kriterien verbindlich ausgestaltet werden konnte. Beginnend mit der Klasse 8 wurden für die Schülerinnen und Schüler berufsorientierende Angebote mit einer regelmäßigen Beratung als orientierender roter Faden unter Einbindung der Eltern bis zum Verlassen der Schule aufeinander abgestimmt. Dieses System befähigte die jungen Menschen, eine auf ihren Interessen und individuellen Fähigkeiten basierende Entscheidung für ihre Berufswahl zu treffen. Der Abgleich der eigenen Vorstellungen von der Berufswelt mit der Realität erfolgte dabei in regelmäßigen Praxisphasen in den Betrieben der Region. Die direkte Übergangsquote in eine duale Ausbildung konnte dabei deutlich gesteigert werden. Die Erfolgsfaktoren des Systems waren: Die Schulen gestalteten sukzessive den inhaltlichen Prozess mit, das System wurde über die Schulaufsicht und die Schulleitungen verbindlich eingeführt und über den gesamten Zeitraum unterstützt, die Lehrkräfte erhielten zeitliche Ressourcen und Fortbildungen für die praktische Umsetzung des Systems, die außerschulischen Partner brachten sich im Rahmen eines regional koordinierten Systems in die regional standardisierte Angebots- und Beratungsstruktur ein.

Die Überführung von landesweiten Standards in einen regionalen Gesamtprozess


Schulische Potenzialanalyse im Rheinisch-Bergischen Kreis
Quelle: Rheinisch-Bergischer Kreis/Prothmann

Als Referenzkommune für das Landesvorhaben „KAoA“ stand die Region Ende 2011 vor einer Herkulesaufgabe. Um allen Schülerinnen und Schülern eine bestmögliche Orientierung zu ermöglichen, sollten die neuen Standardelemente flächendeckend in allen Schulformen eingeführt werden. Zeitgleich musste das bereits erfolgreich etablierte System aus den Hauptschulen entsprechend übertragen beziehungsweise weiterentwickelt werden. In intensiven Arbeitsprozessen mit den Landesministerien und den anderen Referenzkommunen galt es, die Erfahrungen und bewährten Strukturen aus der Region zu nutzen, um schulformbezogene und somit zielgruppengerechte Angebote zu entwickeln und geeignete Träger zu finden. Eine Potenzialanalyse an Gymnasien sollte schließlich anders gestaltet sein als die an einer Förderschule.

Die ressourcenschonende Ausgestaltung der Berufsfelderkundungen in Unternehmen mit dem Ziel einer Perspektiverweiterung musste systematisch koordiniert werden, um Jugendlichen andere, ihnen bisher unbekannte Berufswelten zu eröffnen. Gemeinsam mit Kooperationspartnern wurde eigens ein datenbankbasiertes Internetportal für die Region entwickelt. Im Mittelpunkt stand dabei die Erkenntnis, dass sich die Mehrzahl der Jugendlichen für einen der zehn bekanntesten Ausbildungsberufe entscheidet. Daher wurden die Ausbildungs- und Studienberufe drei verschiedenfarbigen Kategorien zugeordnet – regional bekannte Berufe, regional mittelmäßig bekannte Berufe und regional unbekannte Berufe. Die Kategorisierung deckt bei drei Berufsfelderkundungen die Buchung aller drei Bereiche für die Schülerinnen und Schüler ab. Berufe, die möglicherweise auf den ersten Blick nicht so attraktiv erscheinen oder weniger bekannt sind, rücken so in den Fokus und erweitern das bereits bekannte Berufswahlspektrum. Zudem verringert sich der hohe Wettbewerb in der Bewerbungsphase. Das ist unter anderem für leistungsschwächere Jugendliche eine große Chance, sich auf dem Ausbildungsmarkt durchzusetzen. Im Lauf der Zeit erhöhten sich sukzessive die Ausbildungsabschlüsse in den eher unbekannten Berufen im Rheinisch-Bergischen Kreis.


Betriebliche Berufsfelderkundung im Rheinisch-Bergischen Kreis 
Quelle:  ASS-Maschinenbau 

An diesem Beispiel zeigte sich früh allen Beteiligten, dass abgestimmte Angebote erfolgreich und sinnvoll sein können, wenn sie individuell und bedarfsgerecht auf die Region zugeschnitten sind und zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden. Welche spezifischen Maßnahmen in den verschiedenen Regionen notwendig sind, kann nur vor Ort gemeinsam mit den beteiligten Schulen und der prozesssteuernden Verantwortungsgemeinschaft ermittelt werden.
Das Land stand hier vor der Aufgabe, den unterschiedlich agierenden Regionen mit ihren kommunalen Koordinierungsstellen auf der einen Seite einheitliche Rahmenbedingungen für ein verbindlich wirkendes System zu bieten, während auf der anderen Seite Raum für neue und kreative Lösungen der regionalen Ausgestaltung bleiben musste. Dies gelang und das System wirkte: Innerhalb der vergangenen zehn Jahre wurden erstmalig in einer konzertierten Aktion der verschiedenen Landesministerien für alle Schulformen Mindeststandards gesetzt und Ressourcen bereitgestellt. Die berufliche Orientierung hat damit einen immensen Schub an allen Schulformen erfahren. Ein großer Erfolg für das System. Heute gilt „KAoA“ auf Landesebene als „implementiert“.

Herausforderungen der Praxis warten auf gemeinsame dialogische Lösungen
Dieses System muss jedoch in der Realität über die kommunalen Koordinierungsstellen ständig erhalten und vor Ort mit Leben gefüllt werden. Denn die Kehrseite einer Standardisierung zeigt sich zunehmend in der Praxis: Im Lauf der Zeit erfuhr das System auf Landesebene durch die sich im Ausbildungskonsens NRW mit der Ausgestaltung beschäftigenden zahlreichen Akteure eine immer stärkere Standardisierung. Aktuell erfolgt die Umsetzung größtenteils „Top-down“ über Anweisungen der Organisationen auf Landesebene an ihre regionalen Einheiten wie Bezirksregierungen, Wirtschaftskammern, Agentur für Arbeit - es besteht die Gefahr einer Überregulierung sowie eine Umsetzung von Angeboten und Prozessen, die vor Ort in der Praxis nur wenig Sinn ergeben. Die Schulen vor Ort müssen sich zudem zunehmend mit kurzfristigen Datenerhebungen für die Landesebene beschäftigen. Die Akzeptanz der Akteure vor Ort beginnt auf diesem Weg allmählich zu schwinden.
Die Ausgestaltung der regionalen Prozesse bleibt daher ein immer wiederkehrender Handlungsauftrag, der regelmäßig unter den vor Ort Beteiligten evaluiert und gestaltet werden muss. Die Kommunen stehen vor Ort in direkter Verantwortung für die Umsetzung des Systems. Sie werden aufgrund der reduzierten EU-Förderung einen Großteil der Finanzierung der kommunalen Koordinierungsstellen zusätzlich übernehmen. Es gilt nun, diese Rolle selbstbewusst und kreativ gemeinsam im engen Dialog mit den regionalen Partnern auszugestalten und das System weiter im Sinne der gemeinsamen Sache mit bedarfsgerechten Angeboten und Strukturen auszugestalten. Und vieles spricht für die regionale Ausgestaltung: Denn in den vergangenen zehn Jahren entstanden landesweit viele erfolgreiche und durch die Regionen eigenständig entwickelte Elemente, um die identifizierten Lücken im Orientierungs- und Übergangsprozess von „KAoA“ vor Ort zu schließen. Das Land dokumentierte diese als „Beispiele guter Praxis aus der Arbeit der Kommunalen Koordinierungsstellen“.


Screenshot - Onlinebewerberbuch
Quelle: Rheinisch-Bergischer Kreis

So entstanden neue ergänzende Elemente wie das Onlinebewerberbuch, das auf digitale Art den klassischen Bewerbungsprozess einfach umkehrt. Dieses Produkt wurde inzwischen von sechs anderen Städten und Kreisen adaptiert und bereichert den landesweiten Prozess. Und dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Grundlage für die Entwicklung dieser wichtigen Prozessleistungen war und ist nicht zuletzt die Bereitstellung von Entlastungsstunden für die Lehrkräfte an den Schulen. Diese konnten für den gemeinsamen dialogischen Entwicklungsprozess von Elementen zwischen Verantwortungsgemeinschaften und Schule genutzt werden. Es gilt nun zwingend, diese Ressourcen an den Schulen für den konstruktiv dialogischen Prozess in den Regionen zu bewahren und nicht ausschließlich für administrative Aufgaben und „Pauschalangebote“ der Landesinitiative zu binden.
Die Partner im „Koordinierten Übergangsmanagement Schule-Beruf“ im Rheinisch-Bergischen Kreis und viele weitere regionale Verantwortungsgemeinschaften haben gezeigt, dass die individuelle Ausgestaltung der Landesvorgaben ein erfolgreicher Weg ist. Und so sollte es auch bleiben, denn was beispielsweise für den Rheinisch-Bergischen Kreis sinnvoll ist, muss für Kommunen im Ruhrgebiet oder Ostwestfalen noch lange nicht passen.


Torsten Schmitt
Quelle Rheinisch-Bergischer Kreis