Wirtschaftsförderung neu denken

19. August 2021: Von Birgit Neyer, Geschäftsführerin der Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft Kreis Steinfurt (WESt mbH)

Das Handlungsfeld von Wirtschaftsförderungen hat sich mit dem technischen Fortschritt und der Notwendigkeit zur Dekarbonisierung verändert. Früher lag der Fokus auf Unternehmen und der Stärkung der Wertschöpfung vor Ort. Darüber hinaus wird es heute zunehmend wichtig, den Blick durch das Fernrohr zu erweitern und weitere Akteure zu entdecken und einzubeziehen -  also z. B. Bürgerinnen und Bürger, Umwelt- und landwirtschaftliche Organisationen oder auch Sozialunternehmen. Ausgangspunkt für jede Wirtschaftsförderung sind die bereits existenten Initiativen, engagierten Bürgerinnen und Bürger und die vorhandenen besonderen Merkmale vor Ort.

„Frau Neyer, wann machen Sie eigentlich mal wieder normale Wirtschaftsförderung?“ Das wurde ich vor einiger Zeit von einem Mitglied meiner Gesellschafterversammlung gefragt. Ich habe damals gesagt, dass das, was mein Team und ich machen, das neue „Normal“ ist. Die Welt ist komplex geworden. Und Corona hat diesen Trend verstärkt:

Corona und die Notwendigkeit zur Transformation
Im ersten Lockdown hat sich im Kreis Steinfurt ebenso wie in ganz Deutschland schon nach kurzer Zeit der Unternehmergeist durchgesetzt und erstaunlich schnell wurden analoge Geschäftsmodelle digitalisiert.  Meetings fanden über digitale Konferenztools statt, Studios wurden eingerichtet, um Zielgruppen zu erreichen. Deutlich hat sich wie überall gezeigt, dass Unternehmen und Institutionen mit einem digitalen Ansatz diese Krise leichter bewältigen.

Durch die weltweite Pandemie wurde uns klar vor Augen geführt, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann und wird – und vor allem, dass es durchaus auch ganz anders geht und dieses nicht zum Schlechteren ist. Wir erleben, wie sich die Wirtschaft in eine neue Richtung bewegt: Mobiles Arbeiten und Home-Office setzen sich durch, weil wir alle mittlerweile gerne Besprechungen über Konferenztools abwickeln und so ineffiziente Fahrtzeiten reduzieren. Auf lange Sicht werden durch flexible Arbeitsorte nicht mehr so große Büroflächen benötigt, was unsere Ortskerne noch stärker verändern wird. Diese sind gerade in eher ländlichen Strukturen wie den unseren sowieso im Umbruch, denn Corona hat den Trend zum Online-Shopping deutlich sichtbar gemacht und verstärkt. Dabei entstehen gerade erst Konzepte zur Entwicklung von mehr Aufenthaltsqualität. Und die Mammutaufgabe für uns alle: Wir müssen endlich Lösungen finden, um den Klimawandel zu stoppen, wenn wir nicht die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte mit noch mehr Flutkatastrophen, Stürmen und Flüchtlingsströmen erleben möchten.

Was ist das traditionelle Verständnis von Wirtschaftsförderung?
Die Aufgabe von Wirtschaftsförderung ist schon seit jeher, die Rahmenbedingungen in der Kommune oder dem Kreisgebiet – also dem jeweiligen Wirkungskreis - zukunftsfähig zu gestalten: Neben dem Kerngeschäft der Bestandspflege der Unternehmen bedeutet es auch, die globalen Entwicklungen auf Projekte vor Ort herunterzubrechen und verständlich zu kommunizieren. Dabei den Unternehmen oder auch Kommunen Instrumente an die Hand zu geben, diese Entwicklungen erfolgreich für das jeweilige Arbeitsgebiet zu nutzen. So wurden bei uns z. B. etliche Projekte zur Digitalisierung der Wirtschaft umgesetzt.
Der eindeutige Fokus waren Unternehmen, Cluster, Wertschöpfungsketten. Das Ziel: die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen vor Ort sicherzustellen – oft genug auch, besser zu sein als die Nachbarkommune oder der Kreis nebenan.

 


Traditionelle Wirtschaftsförderung.
Quelle: Frank Wältring, mesopartner

Frank Wältring, Partner der internationalen Wirtschaftsförderungsberatung mesopartner, bezeichnet die traditionelle Wirtschaftsförderung als Blick durch ein Fernrohr. Wir betrachten die lokale Wirtschaftswelt klar fokussiert mit einem Tunnelblick: Wir suchen lokale und international orientierte Unternehmen, zoomen ins Detail bei Clustern, scannen Startups und wollen wirtschaftliche Innovationschancen nutzen. Wir wollen die Wirtschaftskraft in der Region stärken und unsere Unternehmen lokal und international wettbewerbsfähig machen.

Wirtschaftsförderung 4.0
Neben der Ausweisung von Gewerbegebieten und Ansiedlung von Unternehmen stellen kluge Konzepte wie der vom Wuppertal-Institut entwickelte Ansatz Wirtschaftsförderung 4.0 den Menschen in den Mittelpunkt. Ziel ist es, regionale Wertschöpfung und kooperative Wirtschaftsformen zu fördern. Dabei darauf achten, Ressourcen zu schonen und das Klima zu schützen. Damit rücken die eher soften Faktoren in den Mittelpunkt: Menschen sollen sich am Standort wohlfühlen. Auch aus traditioneller Perspektive ist das wichtig: Denn so gelingt es, die immer knapper werdende Ressource Fachkraft am Ort zu halten oder sie zu motivieren, ihren Lebensmittelpunkt hierher zu verlegen. Als neue Aufgabenfelder für Wirtschaftsförderungen entstehen so z. B. die Bildung von Coworking-Spaces als kreative Orte der Kommunikation, Entwicklung von Maßnahmen gegen den Ärztemangel auf dem Land, Mitarbeit oder Gestaltung von Ortskernentwicklungskonzepten, um nicht der Verödung von Ortskernen tatenlos zuzusehen. Entscheidend ist die Schaffung einer hohen Lebensqualität vor Ort - und das gemeinsam mit den Menschen und den hier bestehenden Ressourcen.

 
Wirtschaftsförderung 4.0: regionale Wertschöpfung und kooperative Wirtschaftsformen.
Quelle: Frank Wältring, mesopartner

Wirtschaftsförderungen können in den jeweiligen Regionen dafür sorgen, dass sich neue Netzwerke bilden, dass der Austausch über die üblichen Grenzen hinaus stattfindet, dass Feindbilder abgebaut werden und – ja – Entwicklung zum Guten stattfindet und unterschiedliche Menschen, Partner und Institutionen einbezogen werden.

Der Wirtschaftsstandort Kreis Steinfurt:
Der Kreis Steinfurt ist mit ca. 445.000 Einwohnerinnen und Einwohnern einer der größten Kreise im Land Nordrhein-Westfalen im Städtedreieck Münster, Osnabrück und Enschede (NL). Wir sprechen über unsere gesunde, mittelständische geprägte Wirtschaftsstruktur häufig als wirtschaftlichen Tausendfüßler, weil unsere vielen Klein- und Mittelunternehmen ganz verschiedene sektorale Schwerpunkte haben. Weil die ingenieurswissenschaftlichen Fachbereiche der FH Münster in der Kreisstadt Steinfurt ansässig sind, gibt es einen lebendigen Austausch zwischen FH und Unternehmen – was der Innovationsfreude guttut. Auch die guten Verkehrsanbindungen haben die Gewerbeflächennachfrage in den vergangenen zehn Jahre auf sehr hohem Niveau gehalten. Zusammengefasst: Alles prima, aber bekannt und sichtbar sind unsere Standortvorteile indes nicht: „Rund um Münster – da ist ja nichts!“ durfte ich vor einigen Jahren von Lothar de Maizière auf einer Veranstaltung erfahren. Kurz: Wir sind für externe Investoren eher auf den zweiten Blick attraktiv.
Auf diesem fällt auf, dass es hier echte Highlights gibt, weil wir unseren eigenen Weg gegangen sind: Als die ökologische Transformation noch nicht hip war, hat der Kreis Steinfurt bereits das einzige Amt für Klimaschutz und Nachhaltigkeit Deutschlands gegründet, erfolgreiche Netzwerke und Kooperationen aufgebaut und Projekte angestoßen. Jetzt, wo es darauf ankommt, schnell Lösungen für den Klimawandel zu finden, profitieren wir davon. Die Kommune Saerbeck, hat sich zur Klimakommune entwickelt und produziert viermal so viel grünen Strom, wie für die Versorgung der Bevölkerung benötigt wird. Das hat mehr als zehn Jahre nach den ersten Schritten in diese Richtung zu einem handfesten Erfolg geführt: Der Elektrolyseurshersteller Enapter siedelt sich hier an. Der Grund: Nachhaltigkeit und bürgerschaftliches Engagement sind keine Schlagworte, sondern gelebte Realität. Gelernt haben wir: Wir müssen unseren eigenen Weg gehen – auch gegen Widerstände, die es selbstverständlich auch gab.

Was sind die geplanten nächsten Schritte im Kreis Steinfurt?
Uns geht es darum, das hier vorhandene Innovationspotential zu nutzen – also mit dem zu kochen, was im Kühlschrank ist: Um die Kompetenzen im Feld der Erneuerbaren Energien und den Schwung der Ansiedlung von Enapter zu nutzen, bauen wir aktuell einen Accelerator (Gründungszentrum) für Erneuerbare Energien auf. Unser Ziel ist es, junge Unternehmen mit dem starken Mittelstand zu vernetzen und daraus für alle Seiten ein Win-Win zu machen: Startups erhalten Business Angels, können ihre Ansätze umsetzen und haben einen erleichterten Marktzugang. Der Mittelstand nutzt den Startup-Spirit für das eigene Unternehmen und entwickelt neue Zukunftsperspektiven.

Um ebenfalls den Gründergeist in der Region zu aktivieren, wollen wir ein Konzept zur Förderung von Social Entrepreneurship an Schulen aufbauen: Also Unternehmensgründungen fördern, die die Welt besser machen, aber nicht vorwiegend profitorientiert sind. Wir wollen mit Schülerinnen und Schülern soziale Unternehmensideen entwickeln und sie damit für die Selbständigkeit sensibilisieren. Junge Menschen vernetzen sich vor Ort und verankern sich in ihrem Heimatort. Ihre erlernten Kompetenzen lassen sich später im Leben auch auf weitere Geschäftsideen anwenden.

Durch die Unterstützung und Vernetzung eines jungen Architekturstudenten entsteht in unserer kleinsten Kommune, Metelen, ein Coworkingspace in einer leerstehenden Drogerie. Freelancer, Bürgerinitiativen und Vereine vor Ort erhalten so einen Raum, um wiederum neue Netzwerke und Kontakte entstehen zu lassen. Wir dürfen gespannt sein, welche Ansätze zum Wohle der Kommune sich hieraus entwickeln!

In Metelen wie auch bei anderen Projekten geht es nicht um den großen Plan, auf den alle Ressourcen abgestimmt werden. Es geht darum, erste Schritte zu machen, schnell ins Handeln zu kommen und mit den hinzukommenden Ressourcen das Konzept groß zu machen. So verhält es sich übrigens auch mit Konzepten wie dem Lean-Startup-Ansatz in der Startup-Szene. Kochen mit dem, was im Kühlschrank ist, bedeutet, die Stärken der Region zu erkennen, Netzwerkspartner zusammenzubringen und über das gemeinsame Tun ein kreatives Klima zu erzeugen, das Menschen, Unternehmen und Institutionen einlädt, mitzumachen und sich aktiv einzubringen. Es ist eine klare Aufgabe der lokalen Wirtschaftsförderung, diese Kräfte zu wecken und zu bündeln und das am besten mit Freude und positiver Energie.


Birgit Neyer
Quelle: WESt mbH