Zukunftschancen für junge Leistungsbeziehende in Gefahr

14. September 2023: Von Tanja Naumann, Arbeitsmarktvorstand jobcenter, Kreis Steinfurt

Nadine, 16 Jahre, ist in ihrem zweiten Ausbildungsjahr zur Einzelhandelskauffrau. Es läuft gut für sie. Das war nicht immer so. Denn Nadine ist eine sogenannte Schulverweigerin.

Ihre Probleme beginnen in der siebten Klasse: Konflikte mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, Auseinandersetzungen mit Lehrern, unentschuldigte Fehlzeiten und schließlich die Versetzungsgefährdung. Doch Nadine schafft es, trotz zunehmender Fehlzeiten und schlechter werdenden Leistungen, bis in die 9. Klasse versetzt zu werden. Dann kommt es zur totalen Verweigerung des Schulbesuchs. Etablierte Hilfen wie Schulsozialarbeit oder klassische Angebote von Jugendhilfe und Berufsberatung erreichen Nadine nicht.


Das Projekt „Dock 14“ betreut Jugendliche mit schwieriger Vita beim Übergang von der Schule zum Beruf.
Quelle: adobestock.com Autor: Вероника Одинокова

Gerade Fälle wie diese hat das jobcenter Kreis Steinfurt in den Blick genommen. Es bietet Hilfe für die Betroffenen und ihre Familien. Dabei kooperiert das Jobcenter eng mit anderen kommunalen Ämtern wie beispielsweise dem Jugendamt oder dem Schulamt. Die Zusammenarbeit funktioniert reibungslos, nicht zuletzt, dank der organisatorischen Verbindung unter dem Dach des Dezernats II der Kreisverwaltung Steinfurt.
Diese vertrauensvolle und ergebnisoffene, rechtskreisübergreifende und an den Sozialräumen orientierte Zusammenarbeit und Planung droht für die unter 25-jährigen Bürgergeldbeziehenden verloren zu gehen. Denn das Bundesarbeitsministerium unter der Leitung von Hubertus Heil plant, sie, statt durch die Jobcenter, zukünftig von den Arbeitsagenturen betreuen zu lassen, wenn es um ihre berufliche Eingliederung geht. Was sich für Außenstehende für eine schlichte Zuständigkeitsänderung anhört, hat für die betroffenen jungen Menschen und oftmals auch für deren Familie spürbare Auswirkungen.

Das jobcenter Kreis Steinfurt hat auf der Grundlage des § 16 h SGB II „Förderung schwer zu erreichender junger Menschen“ unter anderem das Angebot „Dock 14“ im Portfolio. Nadine hat davon profitiert.

Es handelt sich um ein Projekt zur durchgehenden und nachhaltigen Erfüllung der Schulpflicht, der Anbindung an Berufsorientierung und der rechtskreisübergreifenden Begleitung aus einer Hand. Das Ziel: mittels präventiven Eingreifens, den Einstieg in den dauerhaften Leistungsbezug zu vermeiden.
Dock 14 wurde innerhalb des Kreisverwaltung durch Jugendhilfe und Jobcenter initiiert, mit weiteren Akteuren in der Kreisverwaltung wie dem kommunalen Bildungsbüro und der Schulverwaltung konkretisiert und unter Einbindung der Schulaufsicht und der Agentur für Arbeit weiter abgestimmt. Die Finanzierung und Umsetzung erfolgt gemeinsam durch das Kreisjugendamt und das kommunale Jobcenter.

Der jetzt geplante Zuständigkeitswechsel des Personenkreises U-25 hätte zur Folge, dass die Finanzierungsgrundlage für dieses und viele weitere Projekte für junge Menschen im Kreis Steinfurt nicht mehr gegeben wäre. Denn der Gesetzgeber hat dafür keine Möglichkeit in der Arbeitslosenversicherung vorgesehen. Vielmehr arbeiten Jugendhilfe und Arbeitsförderung im System SGB III neben- statt miteinander. Erschwerend kommt hinzu, dass der Agentur für Arbeit, mangels Zuständigkeit, die Erfahrung in der Arbeit mit dieser Zielgruppe seit beinahe zwei Jahrzehnten fehlt.
Diese Strukturen und die Expertise bei der Agentur für Arbeit aufzubauen, wird seine Zeit brauchen. Zeit, die die jetzige junge Generation nicht hat. Im Kreis Steinfurt, sind davon rund 3.000 junge Menschen betroffen, bundesweit sind es rund 700.000, deren Zukunftschancen durch die Umstrukturierung unnötig geschmälert werden.

Nadine hatte Glück. In ihrem Fall konnten in Absprache mit ihrer Schule die Pädagogen von Dock 14 behutsam Kontakt zu ihr und ihren Eltern aufnehmen. In wöchentlichen Gesprächen bei ihr zu Hause öffnet sich Nadine und vertraut sich den Pädagogen an. Gemeinsam und in engem Austausch mit Eltern und Schule suchten sie nach Lösungen. Zusätzlich banden sie eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Einrichtung ein. In Abstimmung mit ihrer Klassenleitung, der Schulsozialarbeit, der Schulleitung, den Eltern, den Dock 14-Pädagogen nahm Nadine zunächst wieder vereinzelnd am Unterricht teil. Parallel ging sie mit den Dock 14-Mitarbeitenden zur Berufsberatung und durchlief mit ihrer Unterstützung den Bewerbungsprozess für ihren jetzigen Ausbildungsplatz.
Aus dem nachweislichen Erfolgsmodell „Dock 14“ entstand in den vergangenen Monaten in einer rechtskreisübergreifenden Projektarbeit ein kreisweit verfügbares dauerhaftes Angebot: Schule macht Beruf. Durch die kommunale Verankerung des Jobcenters war es möglich, gemeinsam mit Jugendhilfe und Schulaufsicht ein Finanzierungs- und Durchführungskonzept zu entwickeln, dass keinen kommunalen Akteur überfordert, aber alle inhaltlich und finanziell in die Pflicht nimmt und von breiter Akzeptanz getragen wird.
Es war geplant, dass dieses wegweisende Angebot „Schule macht Beruf“ frühzeitig bei den jungen Menschen zum Tragen kommt, die ohne entsprechende Hilfen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu langfristigen Leistungsbeziehenden werden.

Aufgrund des geplanten Zuständigkeitswechsels droht dieses Angebot für junge Menschen mit schweren schulischen Problemen nun das finanzielle und fachliche Aus. Die Folge: Andere Schülerinnen und Schüler mit ähnlichen Problemen wie Nadine drohen künftig zu scheitern, da ihnen keine niedrigschwelligen, individuellen, aufsuchenden und sozialräumlichen Hilfsangebote mehr gemacht werden können. Insbesondere junge Menschen mit multiplen Schwierigkeiten können voraussichtlich nicht mehr aufgefangen werden. Sie werden zukünftig durch das Raster an Hilfsangeboten fallen. Das Jobcenter befürchtet jetzt, dass wieder mehr junge Menschen im Kreis die Schule ohne Abschluss verlassen. Dabei waren die Zahlen so vielversprechend: Lag der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss 2020 – also ohne Dock 14 – noch bei 5,2%, sank er im Kreis Steinfurt innerhalb von zwei Jahren um 0,8 Prozentpunkte auf 4,4 Prozent.


Tanja Naumann
Quelle: Kreis Steinfurt